Clay Regazzoni, der populäre Rennfahrer

Portrait eines Champions, fünfzig Jahre nach seinem Formel-1-Erfolg in Monza

Interview mit seiner Frau Maria Pia und seiner Tochter Alessia: Erinnerungen und soziales Engagement

Auf dem Bildschirm erscheint ein Ferrari 312 B, Nummer 4, in strahlendem Rot, dessen 12 Zylinder den Zuschauer mit ihrem siegreichen Dröhnen verzaubern. Ein Arm streckt sich zum Himmel und dann… das Toben der Menge, die ihren siegreichen König in die Höhe stemmt. Eine Flagge und unsere Nationalhymne. Am 6. September, also vor genau 50 Jahren, gewann ein junger Mann aus Porza sein erstes Formel-1-Rennen, nachdem er Formel-2-Europameister geworden war. Es war Clay Regazzoni. Dieses aussergewöhnliche Ereignis hat nicht nur in sportlicher Hinsicht dauerhafte Spuren im Alltag dieses Spitzensportlers hinterlassen. In einem bewegenden Interview haben seine Frau und seine Tochter über ihn gesprochen.

Clay Regazzoni mit seiner Frau Maria Pia und den Kindern Alessia und Gian Maria
Clay Regazzoni mit seiner Frau Maria Pia und den Kindern Alessia und Gian Maria

Maria Pia, wie haben Sie diesen historischen Sieg auf privater Ebene erlebt, und was hat er bewirkt?

Alles und Nichts hat sich verändert. Bis zu diesem Zeitpunkt arbeitete mein Mann in der Karosseriewerkstatt seines Vaters und führte ein ruhiges, erfülltes Leben. Sein Aufstieg in die Formel 1 begann 1967mit Tecno und dieser Titel war der Höhepunkt. Aber es war nur der Anfang von all dem, was noch auf uns zukam. Der Wechsel zu Ferrari hingegen hat unseren Lebensstandard erheblich verändert. Wir wurden in eine Welt mit einer Vielzahl an Menschen und Verpflichtungen geworfen. Dieses Umfeld auferlegte uns Tempo, unzählige Reisen im Zusammenhang mit seiner Arbeit – ein Leben, das ich mir nie zuvor vorgestellt hatte. Emotional ist Clay jedoch derselbe geblieben: ein einfacher, bescheidener Mensch der, obwohl er in Monza gewonnen hatte, mit den Füssen auf dem Boden geblieben war. Er genoss das Zusammensein mit seinen Freunden und machte keinen Unterschied nach Klasse oder sozialer Herkunft. Auch für seine Kinder ist er der Vater geblieben, den sie kannten, und die Familiendynamik wurde nicht allzu sehr über den Haufen geworfen.

Clay Regazzoni

Wir haben Sie seine Berühmtheit erlebt? Haben Sie Clay auf seinen Reisen um die ganze Welt begleitet?

Hin und wieder habe ich an Grand Prix teilgenommen, aber immer dafür gesorgt, dass meine Kinder gut aufgehoben waren. Meine Mutter hat mir dabei sehr geholfen. Mit der Zeit gewöhnt man sich an die Berühmtheit. Die Auswirkungen spürten wir vor Allem in Italien: Damals hatte der „Commendatore“ Ferrari aufgehört, Talente aus Italien zu rekrutieren, und mein Mann wurde mit seinem Namen praktisch als italienisches Idol adoptiert, obwohl seine Schweizer Herkunft anerkannt war. Er war ein bisschen ihr Fahrer, und die riesige Menschenmenge, die der Zielflagge am 6. September folgte, war ein unglaublicher Beweis dafür. Ich erinnere mich an Clays enorme Befriedigung, nicht so sehr über den Sieg, aber (gesteht sie mit einem Lächeln) weil es ihm gelungen war, Jackie Stewart zu schlagen.

Alessia, bei einem öffentlichen Auftritt sagten Sie: „Clay Regazzoni war ein Mann, der sein Leben voll und intensiv lebte und diesem Leben Würde verliehen hat.“ Welche Werte konnte er Ihnen und Ihrem Bruder vermitteln?

Einfachheit und Demut, diese beiden Tugenden waren tief in ihm verwurzelt. Er hat nie abgehoben wegen all dem, was er erreicht hatte und blieb sich selbst treu. Genau wie diese „Gladiatoren“, die zu einer Zeit gehörten, in der die Menschen nicht zögerten, sich menschlich und offen zu zeigen, ohne Filter und Zweideutigkeit.

Man hat zum Beispiel viel über die charakterliche Dualität zwischen Regazzoni und Lauda gesprochen, aber keiner der Beiden hat den Anderen je beeinflusst. Sie hatten völlig unterschiedliche Auffassungen… über den Motorsport und über das Leben an sich. Niki, der mir als sehr liebenswürdiger Mensch in Erinnerung bleibt, war schüchterner, methodischer und fuhr, um zu gewinnen. In gewisser Weise war er ein Vorreiter der heutigen Zeit. Umgekehrt lebte mein Vater, der fast zufällig in der Formel-1 angekommen war, seine Leidenschaft authetisch aus, ohne sich allzu sehr um den mathematischen Aspekt zu kümmern. Er liebte diese Welt der Fans, Motoren, Techniker und Mechaniker (er verbrachte viele Abende mit den Letzteren, wie dies kürzlich Giulio Borsari, der ehemalige Teammanager, bestätigte).

Was bedeutete es, von der Aufmerksamkeit umgeben zu sein, die einem Champion zugutekam?

Auch wenn er uns am Sonntag im Fernsehen begeisterte, war er in unseren Augen weder ein Idol noch ein erfolgreicher Sportler, sondern einfach unser Vater. Die Familie war der Ort, an dem er seine Batterien aufladen konnte, und er nutzte alle kleinen Gewohnheiten, die ihm sein Aufenthalt zu Hause bieten konnte: Ruhe, wenig Worte, er mochte Westernfilme (deren Dialoge er auswendig wusste) und sah sie mit uns an. Er liebte Risotto, Suppen, Tennis… und verbrachte viel Zeit auf den Tennisplätzen der Villa Castagnola. Meine Mutter verzweifelte, wenn sie ihn durch das Fenster beim Spielen zusah und das Abendessen zubereitete – überzeugt davon, dass dieses Spiel sein Letztes war (was manchmal auch eintraf). Wenn er in Lugano war, spielte er auch gerne Karten in der Bar „Paciarott“, denn er kam mit allen Menschen gut aus.

Ich denke, dass es zwischen der Schweizer und der italienischen Mentalität einen grossen Unterschied gibt. In der Schule fragte uns niemand etwas, und wir spürten keinen Unterschied zu den anderen Schülern. Aber sobald wir die Grenze überschritten, spürten wir sofort die unglaubliche Verbundenheit der Ferrari-Fans. Wir waren sehr überrascht darüber. Ich erinnere mich an einige Gegebenheiten, in denen Kinder, die von einigen Sponsoren eingeladen worden waren, uns mit ihnen in die Schule nahmen, um allen „die Kinder von Clay Regazzoni“ zu zeigen… und ich schämte mich so sehr.

Clay Regazzoni

Der als Siegeszeichen erhobene Arm in Monza, vor fünfzig Jahren, ist zu einer Art Symbol für alle Schlachten geworden, die er im Laufe seines Lebens geschlagen und gewonnen hat. Die Wichtigste war jene gegen die Widrigkeiten des Schicksals. Was für ein Mensch ist er nach seinem Unfall im Jahre 1980 geworden? Warum gilt er auch heute noch als ein Emblem des Willens und Mutes?

Der Unfall in Long Beach hat sein Leben verändert: Von einem Tag auf den anderen war er querschnittgelähmt ans Bett gefesselt und stand alleine vor dem schwierigen Rehabilitationsprozess, denn unter den Tausenden von Menschen, die er kannte, blieben nur die Familie und einige enge Freunde an seiner Seite. Doch wieder einmal erwies er sich als Kämpfer: Für ihn waren diese Probleme nicht anderes als kleine Zwischenfälle, die es zu überwinden galt. Er versuchte mit aller Kraft, wieder gehen zu können. Er war ein vorbildlicher Patient, der sich unermüdlich den verschiedensten Operationen unterzog – bis er den Ärzten sagte, es sei jetzt genug. Aber selbst als die Hoffnung starb, gab er nie auf. Er änderte nur seine Perspektive. Es war genau diese Art von angeborenem Impuls, der es ihm in den folgenden Jahren möglich machte, sich derart anstrengenden Rennen wie dem Paris-Dakar zu stellen (das er wie ein Formel-1-Rennen absolvierte und den anderen Teilnehmern, die jeweils vorzeitig aufgaben, den Mut nahm). Er wollte nicht, dass die Querschnittlähmung ihm Grenzen setzte und sorgte dafür, dass wir uns nicht der Angst beugten, die uns wichtige Aspekte im Leben ausgeklammert hätte (er sagte immer, das Leben bestehe aus Nichts und er habe nur dann Angst empfunden, als ihn die Menge in Monza in die Luft geworfen hatte). Aufgrund all dieser Erlebnisse habe ich, was diese Zeit anbetrifft, keinerlei negative Gedanken.

Clay Regazzoni hat sich sehr eingesetzt dafür, dass Menschen mit Behinderungen ein Maximum an Würde und Möglichkeiten geboten wird…

Trotz seines Handicaps führte er ein komfortables Leben, wurde unterstützt, war geliebt und es wurde ihm geholfen. Er hätte nur für sich selbst sorgen können, doch als er sich der (damals weithin isolierten) versteckten Welt bewusst wurde, in der die Menschen mit Behinderungen lebten, begann er mit der Einforderung ihrer Rechte, genauso wie einige andere, zum Beispiel der Schauspieler Christopher Reeve, der ihr Sprecher war. Mein Vater hat besonders darauf gedrungen, Forschungsprogramme zu starten die, wie er sagte, den Lobbys des Sektors nicht genehm, aber von grundlegender Bedeutung waren, um den Menschen eine Zukunft zu geben, die sich in derselben Situation wie er befanden. Bereits 1984 gründete er mit zwei Schweizer Paraplegikern (einem Chirurgen und einem Werbefachmann) die „Internationale Stiftung für Forschung in Paraplegie IRP“. Dank den gemeinsamen Anstrengungen von Männern wie meinem Vater widmen heute bedeutende Institutionen wie die Schweizer Paraplegiker-Stiftung in Nottwil einen Teil ihrer Ressourcen der Entwicklung neuer Therapieansätze, die in jüngster Zeit ermutigende Resultate gebracht haben.

Der Clay-Regazzoni-Memorial-Room in Pregassona ist nicht nur ein Raum, in dem man einen Champion ehren und seine Heldentaten auf einem Ausstellungs-Parcours erfahren kann. Es ist auch und vor allem ein Ort der Bewusstseinsbildung…

In seinen Interviews sagte er: „Ich ärgere mich hundertmal pro Tag über die Ignoranz der Menschen“. Mit diesen harten und freimütigen Worten wollte er zusammenfassen, dass die Gesellschaft die Welt der Querschnittgelähmten weder kannte noch sich gewohnt war, die Rollstuhlfahrer als ganz normale Menschen zu behandeln oder architektonische Hindernisse zu beseitigen. Er kämpfte für Anerkennung und dachte oft über den Wandel in einer Gesellschaft nach, in der die Kinder eine Schlüsselrolle für den Erfolg einnehmen: Sie sind unvoreingenommen, sie haben eine echte Lernbereitschaft und sind die Erwachsenen von Morgen – mit einem verstärkten Bewusstsein.

Was wir hier mit dem Memorial versuchen, sind Treffen zu organisieren, die der Verkehrssicherheit dienen. Clay würde sich freuen, die Schüler lächeln zu sehen und sich von den Autos verzaubern zu lassen, in denen er mit Talent und Leidenschaft zum Sieg fuhr. Er würde sich freuen, dass sie sich viele wunderbare Berichte von Menschen anhören, die wie er eine Tragödie erlebt haben. Was mein Vater getan hat, ist ein Tropfen auf den heissen Stein, aber ich bin sicher, dass sein Beispiel weiterleben wird.

Text: Elias Bertini
Fotos: Famiglia Regazzoni

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